Es ist das Ende der Ferienzeit – und wir haben wieder Hoffnung, dass zumindest in den nächsten Wochen noch etwas von der ursprünglichen Normalität des Alltags zurückkehrt.

Normalität ist für jeden etwas anderes. Wenn Sie zu den glücklichen Menschen gehören, die Arbeit und Begabung verbinden können, ist sie etwa beglückendes; für Menschen im Wartestand, zwischen Ausbildung und Job, Schule und Nicht-Schule, Erhalt der Aufenthaltspapiere und Warten auf den nächsten Brief vom Amt kann die Normalität frustrierend sein. Für Menschen, die innerhalb von Stunden des wenigen beraubt worden sind, das sie noch hatten, ist es eine Katastrophe, wenn die Normalität ihres Lebens und Leidens einfach hingenommen wird.

Ich meine damit das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo eine Normalität herrschte, die man im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr für möglich halten sollte. Dieses Lager brannte in der Nacht auf Donnerstag ab – und Zehntausende Kinder, Frauen und Männer verloren ihre ohnehin schon erbärmliche Unterkunft und das letzte bisschen Schutz. Die Normalität unserer Welt sieht nämlich oft so aus: wir ignorieren die Probleme solange, bis es – buchstäblich – brennt. Egal, ob es dabei um den Klimaschutz, das Artensterben, die Asylpolitik oder zunehmende autokratische Tendenzen weltweit geht.

Es ist inzwischen nicht mehr so einfach wie früher, diese Tatsachen zu ignorieren – dem Internet und einer guten Presse sei‘s gedankt. Aber andauernde Konfrontation mit diesen Krisen stumpft abd und frustriert. Lesen und hören wir nur noch von Katastrophen, verlieren wir uns in dem Dunkel, aus dem sich die Verschwörungsgläubigen und Fatalisten ihre Weltwahrheit zusammenstricken. Da ist es gut, einmal ein Wort zu hören, das dem entgegensteht.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ singt der 103. Psalm, und das ist – wie ich finde – ein guter Ansatz. Vergessen sollten wir das Gute, das wir erfahren, nämlich keineswegs. Und es ist auch gut und notwendig, dafür zu danken. Wenn wir Privilegien haben – die Freiheit von Verfolgung, Wetter, Gewaltherrschaft, Rassismus etc. – sollten wir sie nicht ignorieren. Diese Privilegien einzusetzen für diejenigen, die sie nicht haben: das ist der einzige sinnvolle Umgang damit. Nicht wegzuschauen, sondern sie für die Schaffung einer menschenwürdigeren Normalität für andere zu nutzen.

Wir können das Gute annehmen und Gott dafür loben; wir dürfen das Schlechte aber auch beklagen und gleichzeitig unser Gutes dagegensetzen. Auf individueller Ebene im täglichen Umgang miteinander und Mitarbeiter*innen, Freund*innen und Andersdenkenden sollten wir uns unserer Privilegien bewusst sein. Sie zu nutzen setzt voraus, dass wir sie wahrnehmen und anerkennen. Nur dann können wir auch die Normalität derer verändern, die sich nicht mehr selbst zu helfen wissen.

Christian Weller

Veröffentlicht in der Moosburger Zeitung am 12.09.2020

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