Als der Augustinermönch Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen zur Erneuerung („Reformation“) der Kirche vermutlich an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, löste er ein Kirchenbeben aus, dessen Nachhall auch heute noch zu hören ist. Die folgenden Auseinandersetzungen und die kulturellen und politischen Folgen der Reformation haben Europa und die Welt nachhaltig geändert.

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Teil dieser Veränderungen war ein Perspektivenwechsel. Die Reformatoren betonten die Gleichheit aller Christen und wandten sich gegen einen Unterschied im „Heilsstatus“ von Laien und Klerikern. Das hatte natürlich einen Bruch mit der traditionellen Auffassung des Verhältnisses von Priester und Christen zu Folge.

Martin Luther veröffentlichte 1520 eine Schrift, mit der er das neue reformatorische Verständnis über die Freiheit der Christen darstellte – die Rechtfertigungslehre. In „Von der Freyheyt eynisz Christen menschen“ („Von der Freiheit eines Christenmenschen„) beschreibt Luther, wie der Glaube das einzig Befreiende ist und welche Auswirkungen dies auf das Leben eines Christen haben soll. Im Kern sagt Luther, dass das Verhältnis des Christen zu Gott ein individuelles Geschehen ist und nicht durch Autoritäten oder Zwänge beeinflusst werden kann. Das war starker Tobak in einer zutiefst hierarchisch und auto­ritätsgeprägten Zeit.

Die beiden programmatischen – und scheinbar paraxoden – Sätze der Schrift lauten „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. – Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luther entwickelt diesen Gedanken aus Paulus-Texten (1.Kor 9: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu jedermanns Knecht gemacht.“; Röm 13: „Ihr sollte niemandem etwas schuldig sein, außer dass ihr einander liebt.“) – schon Paulus versteht Freiheit als Befreiung von den Gesetzen, der Sünde und dem Tod.

Luther zeigt anfangs, dass der Mensch zwei Naturen besitzt: eine innere, geistliche und eine äußere, leibliche, notorisch sündige. Für ihn ist klar, dass „weltliche Dinge“ die Seele des Menschen nicht befreien, sie allerdings auch nicht hindern können – weder Wallfahrten, heilige Kleider oder Orte noch Fasten oder Pilgern nützen.

Die Gebote der Bibel lehren nach Luther die guten Werke, ermöglichen aber nicht ihre Erfüllung, sondern zeigen dem Menschen, dass er eben zum Guten nicht fähig ist – das wird ihm erst durch die Verheißung ermöglicht, und die ist klar und einfach: „Glaubst Du, so hast Du!“. Wer das Evangelium von Jesus Christus annimmt und an Gott glaubt, erhält die einzige „Sicherheit“ für seine Seele (Joh 11): „Ich bin das Leben und die Auferstehung. Wer an mich glaubt, der lebt ewig.“ Glaubt man, so ist man gerechtfertigt – und allein dieser Glaube ist schon ausreichend: „Der Christenmensch [hat] am Glauben genug, dass er kein Werk braucht, um gerecht zu werden. Bedarf er aber keines Werkes mehr, dann ist er gewiss von allen Geboten und Gesetzen entbunden. Ist er entbunden, so ist er gewiss frei.“

Einem so befreiten Menschen aber dienen nach Römer 8 „alle Dingen […] zu ihrem Besten, sei es Leben und Sterben, Sünde, Gerechtigkeit, Gutes, Böses.“ – sprich: was auch passiert und welche Fehler er begeht, durch den Glauben ist er befreit. Denn durch eben diesen Glauben und die „Vermählung von Christus und dem Sünder“ kommt es zum „fröhlichen Wechsel von Untugend und Sünde zu Christus“ – der Mensch erlangt Seligkeit und ist von der Sorge um sein Seele erlöst.

Die Konzentration auf den Glauben als Heilszugang hat natürlich Folgen für den Gottesdienst: die Predigt als Auslegungsort des Wortes Gottes wird der zentrale Mittelpunkt der Gemeinschaft. Gute Predigt spricht von Christus und soll den Glauben erwecken und stärken.

Natürlich weiß Luther um die Gefahr, sich als rein innerlich zu betrachten und aus der Welt zurückzuziehen: „Ei, wenn der Glaube alle Dinge ausmacht und es allein auf ihn ankommt, ausreichend gerecht zu machen, warum sind dann die guten Werke geboten? Dann wollen wir guter Dinge sein und nichts tun!“. Nur sind wir natürlich keine rein inneren Wesen, und hier kommt die Idee der Werke wieder ins Spiel. „Gute gerechte Werke machen niemals einen guten gerechten Menschen, sondern ein guter gerechter Mensch tut gute gerechte Werke. Schlechte Werke machen niemals einen schlechten Menschen, sondern ein schlechter Mensch tut schlechte Werke…“ Auf gut Deutsch: andersherum wird ein Schuh daraus. Befreit vom Zwang, durch gute Taten vor Gott Gnade zu finden und im Wissen darum, dass der eigene Glaube vollkommen ausreicht, ist der Mensch jetzt in der Lage, aus freiem Willen gute Taten zu vollbringen – nur eben nicht mehr zur individuellen Rechtfertigung: „Der Glaube geht mit Lust und Liebe ins Werk.“

Luther betont: wahres christliches Leben denkt an die Anderen. Gute Taten für die Nächsten, Akzeptanz ihrer Schwächen und Hilfe für sie ist notwendig und als Reaktion auf die Gnade durch den Glauben zu sehen. Freiheit bedeutet hier also auch die Freiheit zur Liebe und „die Liebe sucht nicht das ihre, sondern, was des Nächsten ist.“ (1Kor 13). Der Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten – in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe.

Luthers Betonung der Freiheit hatte weitreichende Folgen. Ihn beschäftigte die Freiheit des einzelnen Gewissens – dieses individuelle Verständnis von Freiheit brach mit den kirchlichen Vorstellungen des Spätmittelalters sowie der katholischen Kirche und war eine Grundlage für die neuzeitliche Bestimmung des Freiheitsbegriffes. Der „linke“ Flügel der Reformation wie beispielsweise Thomas Müntzer interpretierte die von Luther primär innerlich bestimmte Freiheit ganz weltlich und forderte in den kommenden Jahren politische Freiheiten ein, die in den Bauernaufständen ein blutiges Ende fanden.

Will man diesen epochalen Text von Martin Luther heute neu lesen, dann tut man gut daran, das zeitgeschichtliche Umfeld und die unterschiedliche Verwendung von Wörtern wie „Freiheit“ zu bedenken. Der Wunsch vom Frei-sein von Angst um das eigene Selbst oder die Suche nach einem „gnädigen Gott“, die Luther nach eigener Aussage sein Leben lang umtrieb, sind dennoch zeitlose Erfahrungen, die auch heute noch anschlussfähig sind und zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und der religiösen Überzeugung einladen.

Und schließlich will unser „Evangelisch-sein“ ja auch gelebt werden – auf dem religiösen „Markt der Möglichkeiten“ stehen wir mit unserer Freiheitsidee gut da, und nicht nur im interreligiösen, sondern auch im interkonfessionellen Dialog müssen und können wir uns mit Luthers Ansichten nicht verstecken. Die Idee der Freiheit und der daraus resultierenden freiwilligen Zuwendung zum Anderen ist modern.

Christian Weller

Veröffentlicht im Gemeindebrief 02/2016 der Ev.-luth. Kirchengemeinde Moosburg a.d. Isar.

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